10-Punkte-Papier zur Transdisziplinären Frühförderung

Prof. Dr. Armin Sohns

 

  1. Immer mehr Kinder in Deutschland entwickeln sogenannte „Entwicklungsauffälligkeiten“. Einschlägige Studien belegen, dass ca. 20% (sonder-) pädagogische Hilfen erhalten, ca. 30% aller Kinder zwischen 3 und 6 Jahren erhalten medizinisch-therapeutische Leistungen. Gleichzeitig steigen die Erwartungen an die Erziehungsleistungen von Familien, die sich gleichzeitig auf immer weniger Personen konzentrieren (Abnahme von familiären Strukturen und Sozialgemeinschaften, zunehmende Alleinerziehende).
  2. Auch die Systeme Kindertagesstätte und Schule sehen sich immer neuen Herausforderungen gegenüber (Inklusion, frühkindliche Bildung, differenzierter Unterricht, besondere kindliche Förderbedarfe), die sie alleine nicht bewältigen können.
  3. Frühförderung ist ein seit 40 Jahren bestehendes  interdisziplinäres Hilfesystem, das bei Kindern mit Entwicklungsproblemen oder -risiken familienorientierte Angebote unterbreiten soll. Es fußt auf gesetzlichen Grundlagen, die bisher nur zögerlich umgesetzt wurden. Diese sehen ein „ganzheitliches“ Hilfesystem vor (§ 4 SGB IX) , das keine isolierten Therapien oder (heilpädagogischen) Übungsbehandlungen einleitet, ohne ein förderliches Lebensumfeld im Blick zu haben, in dem Kinder emotionale Stabilität erhalten, soziale Erfahrungen machen und ihre Neugier ausleben können. Die kindlichen Lebenswelten mit zunehmender Verinselung und einer medialen Fokussierung bergen hier neue Risiken, denen allein mit „Therapien“ nicht sinnvoll begegnet werden kann. Hier bedarf es umfassender lebensweltorientierter Ansätze, die in den sozialen Gemeinschaften des Kindes ansetzen.
  4. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit der Unterschrift unter die UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2007 verpflichtet, das Prinzip der Inklusion umzusetzen. Nimmt man diesen Anspruch ernst, wird der Unterschied zwischen behindert und nicht behindert aufgehoben. Es gehört zur Vielfalt einer Gesellschaft, anders zu sein. Im Mittelpunkt stehen nur noch individuelle Hilfebedarfe, keine (stigmatisierenden)  Kategorien.
  5. Gerade Deutschland gehört bei dem Anspruch der institutionellen Integration von „Menschen mit Behinderungen“ zu den Schlusslichtern in Europa. Besuchen beispielsweise im europäischen Durchschnitt 80% der Kinder mit Behinderungen eine Regelschule, ist das Verhältnis in Deutschland mit nicht einmal 20% genau umgekehrt.
  6. Wollen die deutschen Bildungssysteme Kindertagestätte und Schule die gesetzlichen Ansprüche an Integration und Inklusion umsetzen, müssen sie ihren Blickwinkel über ihre Institution hinaus erweitern. Kein System kann die Herausforderungen kindlicher Entwicklungsrisiken alleine lösen. Es bedarf der Vernetzung des schulischen Bereiches mit dem außerschulischen.
  7. Hierzu bedarf es aber auch gut ausgebildeter Fachpersonen außerhalb der teilstationären Bildungseinrichtungen, die diese Verbindung weiterführen können. Das System der Frühförderung bietet sich hierfür mit seiner jahrzehntelangen familienorientierten Arbeit im Rahmen einer mobilen Hausfrühförderung an.
  8. Um dieses System mit seinem „ganzheitlichen“ Auftrag wirkungsvoll werden zu lassen, muss der Fokus der Hilfestellung von der derzeit dominierenden Ausrichtung auf therapeutische Leistungen oder heilpädagogische Übungsbehandlungen verschoben werden: Wissenschaftliche Effizienzuntersuchungen belegen weltweit lediglich die Wirksamkeit von Hilfeangeboten, die am Lebensalltag ansetzen. Daher muss das Gesamtsystem Familie in die Hilfeleistung einbezogen oder mit den teilstationären Angeboten verknüpft werden.
  9. Für die auszubildenden Fachpersonen bedeutet dies, dass sie sowohl Kompetenzen bezüglich der individuellen Förderung der Kinder besitzen müssen als auch zur Stärkung der Ressourcen in deren Lebensumfeld. Die bisherigen Ausbildungsgänge im Bereich der Frühförderung zielen auf ein ausdifferenziertes Expertenwesen (Pädiatrie, Psychologie, Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Heilpädagogik, Sozialarbeit etc.). Innerhalb dieses „Spartenseparatismus“ (Speck) vertreten die jeweiligen Berufsgruppen primär ihre spezifischen Blickwinkel und Interessen. Um den o.g. Anforderungen künftig gerecht werden zu können, bedarf es speziell für das Frühfördersystem ausgebildeter hochqualifizierter Fachpersonen, die über die spezialisierten Partikularinteressen der einzelnen Berufsgruppen das Gesamtsystem Familie mit den Kindern im Blick haben. Dieser Ansatz setzt voraus, dass die Fachkräfte Kompetenzen erlernen und anwenden, die über die abgesteckten Zuständigkeiten der bisherigen ausdifferenzierten Berufsgruppen hinausgehen. Mit der Ausbildung zum Frühförderer wird diesem transdisziplinären Ansatz als Querschnittsdisziplin parallel zu den bisherigen Berufsgruppen Rechnung getragen.
  10. Transdisziplinarität braucht weiterhin Interdisziplinarität. Der Einsatz von transdisziplinären Frühförderern könnte den Anspruch erwecken, für alle Fragestellungen zur kindlichen Entwicklung einschließlich von Problemen im Familiensystem zuständig zu sein. Hingegen bedürfen auch transdisziplinär arbeitende Fachpersonen in ihrer alltäglichen Arbeit einer interdisziplinären Teamstruktur, in der sie sich mit speziell ausgebildeten Fachkräften der bisherigen Berufsgruppen vernetzen. Nur so kann den vielfältigen Anforderungen Rechnung getragen und einer Überforderung der Frühförderer entgegen gewirkt werden. Gleichzeitig führt dies  im Laufe der weiteren Berufserfahrung zu einer kontinuierlichen Kompetenzerweiterung aller kooperierenden Fachpersonen.