Berufliche Perspektiven Transdisziplinäre Frühförderung

Immer mehr Kinder in Deutschland entwickeln sogenannte „Entwicklungsauffälligkeiten“. Gleichzeitig steigen die Erwartungen an die Erziehungsleistungen von Familien, die sich – bedingt durch die Abnahme familiärer Strukturen und Sozialgemeinschaften und die Zunahme alleinerziehender Elternteile – dabei auf immer weniger Personen konzentrieren.

Neben der medizinisch-therapeutischen Frühförderung hat in Deutschland ein flächendeckendes System pädagogischer und interdisziplinärer Frühförderung entwickelt, das in ca. 1.200 Frühförderstellen, über 120 Sozialpädiatrischen Zentren und Tausenden von (integrativen) Kindertagesstätten wirkt. Im Team mit verschiedenen Berufsgruppen aus Pädagogik, Medizin, Psychologie und Therapie werden hier, gemeinsam mit den Eltern, Säuglinge und Kleinkinder mit Entwicklungsrisiken oder (drohenden) Behinderungen möglichst frühzeitig gefördert und weiteren Beeinträchtigungen vorgebeugt. Dabei erhalten in Deutschland laut ISG-Studie im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums 

  • • ca. 86.000 Kinder/Jahr Frühförderung durch Frühförderstellen,
  • • ca.140.000 Kinder/Jahr Leistungen in einem Sozialpädiatrischen Zentrum.

Auch die Systeme Kindertagesstätte und Schule sehen sich immer neuen Herausforderungen gegenüber (Inklusion, frühkindliche Bildung, differenzierter Unterricht, besondere kindliche Förderbedarfe), die sie besser mit fachdisziplinübergreifender Expertise und Kooperation bewältigen können.

Frühförderung ist ein seit 40 Jahren bestehendes interdisziplinäres Hilfesystem, das bei Kindern mit Entwicklungsproblemen oder -risiken familienorientierte Angebote unterbreiten soll. Es fußt auf gesetzlichen Grundlagen im SGB IX und im BTHG. Diese sehen ein „ganzheitliches“ Hilfesystem vor, das keine isolierten Therapien oder (heilpädagogischen) Übungsbehandlungen einleitet, ohne ein förderliches Lebensumfeld im Blick zu haben, in dem Kinder emotionale Stabilität erhalten, soziale Erfahrungen machen und ihre Neugier ausleben können. Die kindlichen Lebenswelten mit zunehmender Verinselung und einer medialen Fokussierung bergen hier neue Risiken, denen allein mit „Therapien“ nicht sinnvoll begegnet werden kann. Hier bedarf es umfassender lebensweltorientierter Ansätze, die in den sozialen Gemeinschaften des Kindes ansetzen.

Um dieses System mit seinem „ganzheitlichen“ Auftrag wirkungsvoll werden zu lassen, muss der Fokus der Hilfestellung von der derzeit dominierenden Ausrichtung auf therapeutische Leistungen oder heilpädagogische Übungsbehandlungen verschoben werden: Wissenschaftliche Effektivitätsuntersuchungen belegen weltweit lediglich die Wirksamkeit von Hilfeangeboten, die am Lebensalltag ansetzen. Daher muss das Gesamtsystem Familie in die Hilfeleistung einbezogen oder mit den teilstationären Angeboten verknüpft werden.

Für die auszubildenden Fachpersonen bedeutet dies, dass sie sowohl Kompetenzen bezüglich der individuellen Förderung der Kinder besitzen müssen, als auch zur Stärkung der Ressourcen in deren Lebensumfeld. Die bisherigen Ausbildungsgänge im Bereich der Frühförderung zielen auf ein ausdifferenziertes Expertinnenwissen/Expertenwissen (Pädiatrie, Psychologie, Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Heilpädagogik, Sozialarbeit etc.). Innerhalb dieses „Spartenseparatismus“ (Speck 2008, S. 32) vertreten die jeweiligen Berufsgruppen primär ihre spezifischen Blickwinkel und Interessen. Um den o.g. Anforderungen künftig gerecht werden zu können, bedarf es speziell für das Frühfördersystem ausgebildeter, hochqualifizierter Fachpersonen, die über die spezialisierten Partikularinteressen der einzelnen Berufsgruppen das Gesamtsystem Familie mit den Kindern im Blick haben. Dieser Ansatz setzt voraus, dass die Fachkräfte Kompetenzen erlernen und anwenden, die über die abgesteckten Zuständigkeiten der bisherigen ausdifferenzierten Berufsgruppen hinausgehen.

Mit der Ausbildung zur/ zum FrühförderIn wird diesem transdisziplinären Ansatz als Querschnittsdisziplin parallel zu den bisherigen Berufsgruppen Rechnung getragen. Transdisziplinarität braucht weiterhin Interdisziplinarität. Der Einsatz von transdisziplinären FrühförderInnen könnte den Anspruch erwecken, für alle Fragestellungen zur kindlichen Entwicklung einschließlich von Problemen im Familiensystem zuständig zu sein. Hingegen bedürfen auch transdisziplinär arbeitende Fachpersonen in ihrer alltäglichen Arbeit einer interdisziplinären Teamstruktur, in der sie sich mit speziell ausgebildeten Fachkräften der bisherigen Berufsgruppen vernetzen. Nur so kann den vielfältigen Anforderungen Rechnung getragen und einer Überforderung der FrühförderInnen entgegengewirkt werden. Gleichzeitig führt dies im Laufe der weiteren Berufserfahrung zu einer kontinuierlichen Kompetenzerweiterung aller kooperierenden Fachpersonen (vgl. Sohns 2013, 10 Punkte Papier zur transdisziplinären Frühförderung).

Der Masterstudiengang Frühförderung rückt ein aktuell und zukünftig zunehmend gesund- heits- und sozialwissenschaftlich bedeutendes Feld der Rehabilitation und der (pädagogischen) Teilhabe in den Vordergrund. Mit dem Studiengang wird eine auf dieses erweiterte Berufsfeld konzentrierte und qualifizierte akademische Ausbildung zur Verfügung gestellt, die die Absolvierenden des Studienganges befähigt, den aktuellen aber auch zukünftigen Herausforderungen der Eingliederungs-, Kinder- und Jugendhilfe sowie dem Arbeitsfeld der Rehabilitation nicht nur gewachsen zu sein, sondern auch als Motor für Weiterentwicklung zu fungieren.

Gerade in Bezug auf die in den vergangenen Jahren sehr aktiv voran geschrittene Akademisierung von Fachkräften im Bereich der frühkindlichen Bildung/Kindheitspädagogik stellt der Masterstudiengang transdisziplinäre Frühförderung ein hoch relevantes Fachgebiet zur Spezifizierung dar. Einerseits kann damit die pädagogische Arbeit in der Kindertagesstätte/Krippe ergänzt und hinsichtlich der Qualität des Angebots für Kinder in Risikolagen bzw. Kindern mit Beeinträchtigungen durch spezifische Fachkenntnis gesteigert werden. Andererseits eröffnen sich hiermit relevante zusätzliche Berufsfelder für Absolventinnen und Absolventen kindheitspädagogischer Bachelorstudiengänge im Bereich der Frühförderung oder der Tätigkeit in einem sozialpädiatrischen Zentrum sowie inklusiven Kindertageseinrichtungen und den Frühen Hilfen.

Die Nachfrage der ArbeitgeberInnen nach den bisherigen AbsolventInnen des Studiengangs ist enorm: Fast alle Absolvierenden des Studiengangs erhalten bereits vor dem Ende des Studiums Arbeitsplatzangebote aus dem Feld der Frühförderung. Die Qualität der neuen Ausbildung spricht sich schnell herum und führt bereits im Vorfeld von Stellenvergaben zu Anfragen künftiger ArbeitgeberInnen an die DozentInnen.