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Altern in Haft – ein Überblick über die Situation älterer Menschen im deutschen Justizvollzug
Altern in Haft – ein Überblick über die Situation älterer Menschen im deutschen Justizvollzug
Geschätzte Lesezeit: 3 MinutenVeröffentlicht am: 11. Februar 2025
von Dr. Andrea Kenkmann
Ältere Menschen in Haft sind eine äußerst vulnerable Gruppe. Neben der Belastung der Inhaftierung erfahren sie weitere Herausforderungen auf Grund ihres Alter(n)s. Gemeinsam mit ihren Co-Autor:innen Christian Ghanem (TH Nürnberg), Liane Meyer (DHBW Karlsruhe), Sandra Verhülsdonk (Heinrich Heine Universität Düsseldorf) hat Andrea Kenkmann die Einflussfaktoren auf die Alterungsprozesse dieser Gruppe systematisch analysiert.[1]
Der demografische Wandel macht auch vor dem Strafvollzug nicht halt. Der Anteil älterer Menschen in Haft hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen, sodass inzwischen ca. 17% der Inhaftierten über 50 Jahre alt sind. Studien zeigen, dass Alterungsprozesse durch die Inhaftierung beschleunigt werden. So kann der Gesundheitszustand einer 50-jährigen inhaftierten Person dem einer 65-jährigen Person der Allgemeinbevölkerung entsprechen. Die Gruppe der älteren Menschen in Haft ist jedoch heterogen, sodass sich individuelle Bedarfe und Herausforderungen unterscheiden. Es ist dementsprechend wichtig Einflussfaktoren auf die Lebenslagen und Alterungsprozesse dieser Gruppe zu erkennen, um so gezielte Unterstützungsangebote zu konzipieren. Von diesen profitieren nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Gesellschaft, denn durch die Perspektive auf ein menschenwürdiges Leben nach der Haft kann einerseits eine erneutes Abdriften in die Kriminalität vermieden als auch die Kosten des Gesundheitssystems durch eine Reduzierung der Pflegebedürftigkeit gesenkt werden.
Das Autor:innenteam hat in der Vergangenheit zahlreiche empirische Studien zu dem Thema durchgeführt. In dieser Publikation werden diese systematisch zusammengetragen und einem internationalen Publikum zugänglich gemacht.
Ältere Menschen in Haft sind keine homogene Gruppe. Bereits zu Haftantritt unterscheiden sich die Lebensbedingungen und der Gesundheitszustand deutlich. Man kann zwischen drei unterschiedlichen Gruppen von älteren Menschen in Haft unterscheiden.: a) Menschen, die erstmals im Alter straffällig werden, b) Menschen, die immer wieder inhaftiert waren in ihrem Leben und c) diejenigen, die in Haft alt werden. Im deutschen Strafvollzug gibt es bedauerlicherweise keine standardmäßigen Gesundheitsuntersuchungen, sodass eine differenzierte Analyse der Inhaftierten zu Haftbeginn kaum möglich ist. Personen mit vorherigen Inhaftierungen weisen häufig Suchtproblematiken auf, die einen besonders negativen Einfluss auf die Gesundheit hat.
Die gesundheitlichen Defizite der älteren Inhaftierten sind vielfältig. Über ein Viertel der Menschen der über 50-Jährigen hat bereits fünf oder mehr chronische Krankheiten, darunter sind typische Alterskrankheiten wie Diabetes, Athrose und Bluthochdruck. Liegen mindestens zwei chronische Erkrankungen vor, spricht man von Multimorbidität. Mobilitäts- und sensorische Einschränkung sind bei vielen vorhanden, auch Inkontinenz tritt in deutschen Gefängnissen auf. Die psychische Gesundheit der Inhaftierten ist ebenfalls beeinträchtigt. Fast die Hälfte der älteren Menschen in Haft zeigen Anzeichen von Depressionen. Kognitive Einschränkungen liegen schätzungsweise bei jeder dritten älteren Person in Haft vor. Inwiefern die Gesundheitseinschränkungen bereits bei Haftantritt vorliegen oder sich erst im Laufe der Haft entwickeln oder verschlimmern, lässt sich derzeit nicht genau bestimmen. Hierzu bräuchte es systematische Gesundheitsassessments bei Haftantritt.
Neben den gesundheitlichen Einschränkungen sind auch die sozialen Netzwerke dieser Gruppe fragil. Der Anteil der Geschiedenen ist in dieser Altersgruppe höher in Haft als in der Allgemeinbevölkerung. In den letzten Jahrzehnten hat sich auch der Anteil derjenigen ohne festen Wohnsitz erhöht. Besonders durch längere Haftstrafen werden vielfach soziale Beziehungen nachhaltig geschädigt.
Während ihrer Inhaftierung finden ältere Menschen sehr unterschiedliche Haftbedingungen vor. Für diejenigen, die in Standardhaftzellen untergebracht sind, gibt es regionale Unterschiede hinsichtlich der Ausstattung und der vorhandenen Unterstützungsangebote, da in Deutschland der Justizvollzug Aufgabe der Bundesländer ist. Einige Haftanstalten bieten aber bereits separate Abteilungen für diese Gruppe an. In diesen sogenannten ‚Lebensälterenabteilungen‘ wird nicht nur Barrierefreiheit gewährleistet, sondern auch der Vollzug anders gestaltet. So sind hier die Zellentüren tagsüber offen, oft können Inhaftierte gemeinsam kochen und es gibt in der Regel altersspezifische Unterstützungsangebote, wie Gymnastik oder kognitives Training. So sollen die Alltagskompetenzen dieser Gruppe aufrechterhalten bleiben. Die Originalpublikation betont hier auch die Bedeutung sozialer Isolation und deren Auswirkungen auf die psychische Gesundheit älterer Inhaftierter. Es wird hervorgehoben, dass der Verlust sozialer Kontakte und die Trennung von Familie und Freunden das Risiko für Depressionen und andere psychische Erkrankungen erhöhen können. Wichtig sind auch geeignete und sinnstiftende Arbeitsaktivitäten, um so auch die psychische Gesundheit zu stärken. Die Unterbringung im offenen Vollzug ist eine weitere Möglichkeit, die aber nur relativ selten genutzt wird. Eine beträchtliche Anzahl der älteren Personen in Haft befindet sich in der Sicherungsverwahrung, eine Weiterführung der Inhaftierung nach Ende der Strafhaft aufgrund von Sicherheitsbedenken. Die Studie diskutiert in diesem Zusammenhang auch die aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen für den Umgang mit älteren Inhaftierten und gibt Empfehlungen für Verbesserungen, um den spezifischen Bedürfnissen dieser Gruppe gerecht zu werden.
Die Ergebnisse der Analyse haben nicht nur Bedeutung für ein internationales Publikum, dass so von deutschen Herausforderungen und Interventionen lernen kann, sondern es werden auch Forschungslücken in Deutschland aufgezeigt. So bräuchte es einerseits Langzeitstudien, um Alterungsprozesse der Inhaftierten besser zu verstehen, aber andererseits auch mehr Informationen zu der Situation nach der Haftentlassung.
Die Forschung hat auch regionale Bedeutung, da eine unzureichende Versorgung dieser Gruppe nicht nur grundlegende Menschenrechte verletzt, sondern auch das Risiko einer Rückfälligkeit nach der Entlassung erhöht. Studierende der Sozialen Arbeit profitieren von der Forschung in dem Bereich, da Ergebnisse mit in die Lehre einfließen und sowohl die Problematiken von Menschen in Haft als auch ältere Menschen veranschaulichen. Die Publikation finden Sie hier https://doi.org/10.3390/socsci13120665
[1] Vgl. z. B. Kenkmann % Ghanem 2024; Verhülsdonk et al. 2023; Meyer 2021
Dr. Andrea Kenkmann